Headsetter
Zu der Zeit, als Dorothea drei Jahre alt war, sah sie mich die meiste Zeit arbeiten, also schreiben. Da es eine frühe Vorzeit, also ohne Computer war, schrieb ich auf einer mechanischen Schreibmaschine. Und da meine Familie aus der Heide kommt, hatte ich - wie Mutter und Großvater - eine Schreibmaschine Marke, Erica". Allerdings mit „K". Da Großvater aus Holdenstedt kam (=biochemisch reine Heidjer) hatte er noch auf seiner Erika das „K" mit Hansaplast zugeklebt und auf eben dieses in gotischer Fraktur-Schrift ein " gemalt. Meine hieß nur minderwertig Erika (mit K). Dorothea las aber noch nicht und interessierte sich nur für die springenden Typenhebel der Mechanik von Erika. Dorothea lernte auch aussprechen, was sie sah: Arbeiten war das Wort für Schreiben. Sie sprach bald auch aus, was sie nicht sah. Nämlich wofür ich schrieb. Unter anderem Patientenberichte und Aufsätze für meinen damaligen Arbeitgeber, die Psychiatrie der Medizinischen Hochschule Hannover. „Pschüjatrie" sagte Dorothea, wenn ich ins Auto stieg.Auf die damals üblichere Frage, was ihr Vater denn so mache, antwortete Dorothea, was sie wusste. Sie stach mit linkem Zeigefinger und rechtem Mittelfinger (meine Tippfinger) sekundenlang eilfertig und salvenartig auf einen imaginären Bauchladen und artikulierte eilig und salvenartig ein „tipptipptipptipptipptipp“ dazu. „Und wo macht er das?" Fragte mancher Besucher verwirrt, weil das Berufe raten im Fernsehen diese Gesten noch nicht gebracht hatte. „In der Pschüjatrie", antwortete sie und ließ manchen Besucher besorgt stehen. Ähnlich wie ich dem Besucher damals vorkam, nämlich bedrohlich, kommt mir die neue Generation von Handy-Nutzern vor, die einem zunehmend auf der Straße, im Bahnhof, auf dem Flughafen entgegenkommen. Headsetter heißen sie und haben‘s - wie der Name schon sagt - am Kopf und im Kopf. Headsetter haben den Kopfhörer als Ohrfloh im Ohr, Mini-Mikro vor der Lippe, das Handy auf dem Herzen. Manche sogar darin. Headsetter kommen uns entgegen mit nach oben/unten oder seitlich schüttelnden Kopf, gestikulierenden Gesten und leerem starren Blick. Insgesamt lassen Headsetter auf Deprivationsschäden (früher Hospitalismus) schließen. Oder auf noch mehr Gefährdendes. Und viele, viele orthopädische Fehlhaltungen tragen Headsetter zur Schau, wenn sie beim gegenüberlosen Sprechen noch ihren Diplomatenkofferschlenkern oder die Blumen eines bunten Straußes ein Hirntrauma erleiden lassen. Wenn Blumen Gehirnwasser hätten. Studenten können orthopädische und psychiatrische Diagnosen bestens an diesen verbogenen, verkrümmten Figuren trainieren. Vorschau: Wir gehen nieder in unserer Entwicklung. Noch mehr Technik am Körper und wir beugen uns immer mehr dem Erdboden entgegen. Eines Tages laufen wir wieder auf allen Vieren. Bekleidet mit Kleinstgeräten ohne Kabel - niedergezogen von der Last überreizter Kommunikationstechnik. Denn dann können wir, die wir so unseren Erdenweg gehen, alles sehen und hören, nur nicht mehr das Gegenüber life. Die Typen auf den Displays unserer Armbanduhr-Handys erheischen volle Aufmerksamkeit, die eingehenden Inlandgespräche auf dem linken Ohr und die Auslandsgespräche auf dem rechten splitten uns genug. Das laufende TV-Programm mit Börsenkurs in der Brille will auch erfasst sein und erlaubt keinen weiteren Blick mehr in ein Gesicht der Umgebung. Ich wirkte damals vergleichsweise ungefährdet. Mit meinem Tipptipptipptipp in der Pschüjatrie.
11. Juni 2002